KV gibt den Sicherstellungsauftrag für den Notdienst an den Freistaat Bayern zurück (30.11.2000)

München (sto). Die Notarzt- und die Bereitschaftsdienste der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) sollen in den kommenden Monaten entflochten werden. Das hat der stellvertretende Vorsitzende der KVB, Dr. Klaus Ottmann, bei der Vertreterversammlung in München angekündigt.

Hintergrund für diese Maßnahme ist zum einen die Entscheidung der KVB, den Sicherstellungsauftrag für den Notarztdienst an den Freistaat zurückzugeben. Bayern sei das einzige Bundesland, in dem die KV für die Organisation des Notarztdienstes zuständig sei, erläuterte Ottmann. Das sei problematisch, da die KV niemanden zum Notarztdienst verpflichten könne, zumal dieser Dienst in mehr als drei Viertel der Fälle von Krankenhausärzten wahrgenommen werde. Dennoch hafte die KV für die Organisation des Notarztdienstes. Dieser werde aus der ärztlichen Gesamtvergütung finanziert.

Ein zusätzliches Problem ergebe sich in den Regionen, in denen der Notarzt- und der kassenärztliche Bereitschaftsdienst vom gleichen Arzt wahrgenommen werde, berichtete Ottmann. Das werfe zusätzliche Haftungsfragen auch für den einzelnen Arzt auf, sagte Ottmann. Daß es solche Fälle gibt, habe die KV allerdings erst jüngst erfahren, nachdem ein Kollege die Bereitschaftsdienstpauschalen für beide Dienste beantragt hatte, teilte Ottmann mit.

Durch die jetzt eingeleitete Entflechtung der beiden Dienste werden in nächster Zeit einige Notarztdienststandorte in Bayern nicht mehr besetzt werden können, kündigte Ottmann an. Diskutiert werde deshalb, ob dann Ärzte aus den Ballungsräumen abgeordnet werden können.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bei Rettern ist noch Sand im Getriebe

Zweckverband Nürnberg ringt weiter um otpimale Organisations-Strukturen

NÜRNBERG/FÜRTH/ERLANGEN (fs). – Der Rettungszweckverband Nürnberg – ihm gehören Nürnberg, Fürth und Erlangen sowie die jeweiligen Landkreise an – wird seine alten Probleme nicht los. Dazu zählen weiter die Differenzen zwischen den Mitgliedern untereinander.

Probleme haben die Verbandsräte etwa mit dem Vollzug des bayerischen Rettungsdienstgesetzes. Seine Richtlinien für Großschadensfälle – Ereignisse mit mehr als zehn Verletzten bzw. mit mehr als drei Notärzten – sehen die Einrichtung der Funktion "Leitender Notarzt" vor. Sie wird bisher von dem Mediziner ausgeübt, der als Erster am Unfallort eintrifft. Weil das Gesetz aber eine enge Zusammenarbeit mit den organisatorischen Leitern eines Großeinsatzes fordert, hält der Zweckverband diese Regelung weder für sinnvoll noch für praktikabel.

Der Leitende Notarzt ist hauptsächlich das Problem der Mediziner in Nürnberg und Fürth. Ihre Kollegen in Erlangen halten dagegen eine Lösung unter Einbeziehung der Uni-Klinik für Anästhesiologie und der Ärzte im Landkreis für machbar. Einen Ausweg aus der Sackgasse erhofft sich der Zweckverband dadurch, dass erneut das bayerische Innenministerium eingeschaltet wurde. Von den Nürnberger Notärzten wird erwartet, dass sie dem Erlanger Beispiel folgen.

Beigelegt ist der seit 1998 schwelende Streit um eine zusätzliche Rettungswache für den Landkreis Fürth in Zirndorf. Auf der Basis eines Gutachtens der Schiedsstelle ist diese Einrichtung seit Jahresanfang in Betrieb, ein weiterer Notarztwagen für das Rote Kreuz vertraglich gesichert, obwohl die Nürnberger Notärzte diese Beschaffung als überflüssig ablehnen.

"Befriedet" wurde die Szene durch eine Strukturanalyse des Universitätsklinikums München-Innenstadt. Das Gutachten für den Rettungsdienstbereich Nürnberg stellt fest, dass "die Wahl der Rettungswache Zirndorf als Standort für einen Notarzt sinnvoll zu sein scheint". Ein weiteres Gutachten soll Nutzen und Auswirkungen der Zirndorfer Rettungsleitstelle im ersten Jahr ihres Bestehens quantifizieren.

Auch der einheitliche Notruf 112 für Feuerwehr und Rettung beschäftigt den Zweckverband weiter. Streit gibt es um die Gesetzesnorm der "Integrierten Rettungsleitstelle" im Katastrophenfall, die Feuerwehr und Retter unter einem Dach vereint, während diese Aufgabe bislang die Polizei übernimmt – für die Kommunen kostenlos. Künftige Zuordnung und Qualifikation des Personals sind die Hauptstreitpunkte zwischen Verbandsmitgliedern untereinander und dem Staat

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wie viel Nutzen bringt die Luftrettung mittels Hubschrauber?

In Norwegen stehen für die Luftrettung zwölf Hubschrauber und Flugzeuge zur Verfügung. Obwohl sich diese Rettungsmittel weitgehend etabliert haben, wird ihr Nutzen häufig noch mit Skepsis betrachtet - und das nicht allein in Norwegen. Trotz des hohen finanziellen Einsatzes wurde die medizinische Effektivität kaum untersucht. Bisherige Studien zeigten zwar einen Nutzen der Luftrettung bei bestimmten Patientengruppen, wie z. B. bei Schwerverletzten, Schwangeren und Kindern, bei kardialen Notfällen scheint er jedoch nicht eindeutig.

Medizinische Effektivität der Luftrettung

Eine kontrollierte Untersuchung über den Nutzen für Patienten in Abhängigkeit vorn eingesetzten Transportmittel wurde bisher noch nicht durchgeführt. Hotvedt et al. berichten über eine Studie, bei der der gesundheitliche Nutzen für die Patienten, die mittels eines Rettungshubschraubers transportiert wurden, verglichen wurde mit dem möglichen Nutzen, der hätte erzielt werden können, wenn die Patienten mit einem bodengebundenen Rettungsmittel transportiert worden wären.

 

Die Einsätze eines am Universitätsklinikum von Tromsø - im nördlichen Teil Norwegens - stationierten Rettungshubschraubers wurden über einen Zeitraum von zwei Jahren untersucht.

Die Hubschrauberbesatzung bestand aus einem Piloten, einem Rettungsassistenten und einem Anästhesisten. Das zu versorgende Gebiet umfaßt 26000 Quadratkilometer mit 150 000 Einwohnern, von denen 70000 in Städten wohnen und ca. 80000 auf dem Land. Für die städtische Bevölkerung wurden keine Rettungseinsätze geflogen. Einer der weitesten Einsatzorte war 130 Kilometer von der Basis entfernt. Die Flugdauer betrug hier 45 Minuten (einfacher Weg). Mit einem Rettungsfahrzeug hätte die Anfahrt vier Stunden gedauert.

Im Untersuchungszeitraum erfolgte 464mal eine Anforderung des Rettungshubschraubers. In der Studie unberücksichtigt blieben 53 Einsätze, die ohne Notarzt geflogen wurden, sowie 26 Einsätze, die wegen der schlechten Wetterverhältnisse abgebrochen wurden. Vier Einsätze konnten wegen technischer Probleme nicht durchgeführt werden, elf wegen nicht näher bezeichneter Gründe.

Aufarbeitung der Einsätze durch Expertenkommission

Mit Hilfe einer Expertenkommission aus Anästhesisten, Internisten, Chirurgen, Pädiatern, Gynäkologen, Allgemeinmedizinern und Epidemiologen wurden die Einsätze aufgearbeitet. Ein Teil der Expertengruppe befaßte sich mit Einsätzen von Kindern unter 15 Jahren und Schwangeren, der andere Teil mit den älteren Patienten.

Die Untersuchung ergab, daß in 88% der Fälle der Hubschrauber durch einen Allgemeinmediziner, in den restlichen Fällen von der Polizei (11), Rettungsdienstpersonal (7), Feuerwehr (1) und Laienhelfern (25) angefordert wurde. In 68 % der Fälle waren die Patienten bereits durch ihren Hausarzt anbehandelt.

Als "Einsatz ohne weiteren Nutzen für den Patienten" wurde gewertet, wenn während des Fluges und in den ersten Stunden nach Krankenhausaufnahme keine Behandlung durchgeführt wurde. Anästhesisten beurteilten insofern 76% der Hubschraubereinsätze ohne besonderen Vorteil für die Patienten.

Geringer Nutzen für Schwerverletzte

Der Nutzen für Schwerstverletzte wurde - im Gegensatz zu anderen Untersuchungen - als gering eingestuft. Bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen soll die Komplikationsrate während eines Hubschraubertransports höher liegen als beim Transport mit bodengebundenen Rettungsmitteln. Die Autoren halten es deshalb für fragwürdig zum Transport von Herzkranken routinemäßig den Rettungshubschrauber einzusetzen.

Vorteilhaft erwies sich der Hubschraubereinsatz bei komplizierten Geburtsvorgängen und generell bei Neugeborenen und Kindern, insbesondere bei solchen mit respiratorischen Problemen und schweren Infektionen.

Wie die Untersuchung zeigte, bietet der Rettungshubschrauber für bestimmte Patientengruppen gute und schnelle Hilfe. Bei einem Großteil der Patienten läßt sich der geringe Nutzen, jedoch nur schwer gegen die hohen Kosten und das Risiko aufwiegen.

A. Depta, Mainz

Quelle: Hotvedt, R., I.S. Kristiansen, O.H. Forde et al.: Which groups of patients benefit from helicopter evacuation? The Lancet 347 (1996), 1362-1366.

 

 

 

 

 

 

Unfallrettung / Nur ein bis zwei Prozent der Unfallopfer profitieren davon

 

Effektivität der Rettung per Hubschrauber soll jetzt belegt werden

 

R e g e n s b u r g (sto). Die Luftrettung per Hubschrauber wird zunehmend kritisch betrachtet. Es wird sogar über die Stillegung einiger Rettungshubschrauber Stationen diskutiert, berichtete der Unfallchirurg Privatdozent Dr. Ulf Schmidt von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) beim Symposium "Rescue 99" des Rettungszentrums Regensburg in Hannover. Die Betreiber der Rettungshubschrauber haben solchen Bestrebungen derzeit nur wenig entgegenzusetzen, räumte Schmidt ein. Mehrere Studien in Europa und auch in Deutschland haben ergeben, daß nur ein bis zwei Prozent der Patienten, die mit einem Hubschrauber transportiert wurden, davon einen Nutzen gehabt haben. Das besagten statistische Auswertungen, bei denen die erwarteten Überlebensraten von Unfallopfern den tatsächlichen Ergebnissen gegenübergestellt worden seien, sagte Schmidt. Die Qualität der Behandlungsergebnisse sei in diesen Untersuchungen jedoch nicht berücksichtigt worden.

Die Frage, ob der Rettungshubschrauber nur Effekthascherei oder ein sinnvolles Rettungsmittel ist, könne demnächst beantwortet werde Denn es werde jetzt begonnen in allen Zentren flächendeckend Daten zu sammeln, um den Bestand der Luftrettung in den nächsten Jahren zu sichern, so Schmidt So läuft seit drei Monaten an der MHH zusammen mit dem ADAC ein Pilotprojekt zur Fernübertragung medizinischer Daten, damit die Kommunikation zwischen Rettungsdienst und Krankenhaus verbessert wird. Das Ziel: Verbesserungen bei der Aufnahme von Patienten in der Klinik sowie kostengünstigere Behandlungskosten. Zudem müsse der Luftrettungseinsatz mit dem der bodengebundenen Rettungsmittel verglichen werden, forderte Schmidt. Dafür gebe es in Deutschland sogar "natürliche Studienbedingungen", da diese Hubschrauber hier nur tagsüber fliegen. In Deutschland fliegen Rettungshubschrauber in 76 Prozent zu einem Unfall. In den USA hingegen werde der Hubschrauber zu 70 Prozent für die Verlegung von Patienten in andere Kliniken genutzt. Ein weiterer Unterschied: In den USA sind die Hubschrauber überwiegend mit Rettungssanitätern besetzt, bei uns und fast überall in Westeuropa fliegt in der Regel ein Arzt mit. Unbestritten sei die hohe Qualität der medizinischen Versorgung in der Luft. Mehr als 95 Prozent aller Patienten werden sowohl in Deutschland als auch in den USA erfolgreich intubiert. Um die präklinische Therapiezeit zu verkürzen, gehe man in den USA dazu über, die Atemwegssicherung oder die Thoraxdekompression während. des Fluges vorzunehmen, sagte Schmidt. Angesichts der engen räumlichen Verhältnisse in den deutschen Rettungshubschraubern wäre dies allerdings sicher schwierig fügte er hinzu

 

 

 

 

 

 

 

 

Sefrin, Prof. Dr. med. Peter

Massenanfall von Verletzten und Erkrankten:

Versorgungsstrategien müssen vorgeplant werden

 

in: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 37 (11.09.1998), Seite A-2251

THEMEN DER ZEIT: Aufsätze

Das Zugunglück in Eschede hat in vorbildlicher Weise gezeigt, wie verschiedene Einsatzorganisationen optimal zusammenarbeiten können, wenn die strukturellen und medizinischen Rahmenbedingungen vorhanden sind.
Mit zunehmender Technisierung kommt es zu einer Eskalation des Risikos für den Menschen. Aufgrund von Fortschritten in der Medizin bedarf es auch einer medizinischen Analyse der Gefahrenpotentiale, um bereits im Vorfeld zu ihrer Vermeidung beitragen zu können. Die Schädigung einer großen Zahl von Betroffenen ist damit ein vorhersehbares Geschehen, das mit einer nicht vorhersehbaren Wahrscheinlichkeit den einzelnen oder eine bestimmte Region treffen kann. Hierauf haben inzwischen Gesetze und Verordnungen reagiert, und zum Beispiel in Bayern ist im Katastrophenschutzgesetz die Sonderform des Massenanfalls unterhalb der Katastrophenschwelle als ein spezielles regelungsbedürftiges Szenario im Rettungsdienst aufgenommen.
Es ist Aufgabe staatlicher Institutionen, im Rahmen der Daseinsvor- und -fürsorge auch diese spezielle Schädigungsform in ihre Planungen einzubeziehen. Im Grundgesetz (Art. 2 [2]) ist formuliert, daß "jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" hat, was bei den Verantwortlichen zur Konsequenz führen muß, daß alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen sind, um Gefahren für Leben und Gesundheit vorzubeugen und auch im Falle eines Großschadensereignisses bestmögliche Hilfe zu gewährleisten. Das Grundgesetz schließt die Pflicht ein, diesem Anspruch an jedem Ort und unter jeder Umweltbedingung auch dann zu genügen, wenn zahlreiche Menschen zu gleicher Zeit oder in gleichem Zusammenhang gesundheitliche Schäden erleiden. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf besondere Formen eines Massenanfalls - zum Beispiel durch chemische Substanzen, die in unübersehbarer Vielzahl produziert, gelagert und auf Verkehrswegen befördert werden. Bisher wurde diese Sonderform des Massenanfalls vernachlässigt und erst durch den konkreten Zwischenfall in Japan als mögliche Gefahrenquelle der Öffentlichkeit vor Augen geführt. Entsprechende Hilfsmaßnahmen bei einer Kontamination mit chemischen Stoffen sind derzeit vielfach unbekannt. Die bestehenden Strukturen sind nach wie vor auf die Versorgung von mechanisch und thermisch geschädigten Verletzten ausgerichtet. Im Falle eines Freiwerdens eines unbekannten Stoffes muß auf eine schnellere und sicherere Detektionsmethode zurückgegriffen werden können. Hieraus wird ersichtlich, daß das Problem der Bewältigung eines Massenanfalls nicht nur in seiner gesonderten Organisation und Gefahrenbewältigung besteht, sondern daß es auch einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit möglichen Schädigungsszenarien bedarf, um einem eingetretenen Schaden nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Der Massenanfall von Verletzten und Erkrankten trotz seiner Seltenheit ist heute keine Fiktion, sondern in allen Regionen - unabhängig von der Bevölkerungsdichte - Realität. Seine Bewältigung fällt in die Zuständigkeit von Feuerwehr und Rettungsdienst. Großschadensereignisse sowie ihre Auswirkungen auf die Gesundheit sind selten sofort und eindeutig von begrenzten Ereignissen abzugrenzen. Deshalb und wegen der sofortigen Verfügbarkeit werden Kräfte des Rettungsdienstes und der Feuerwehr vorrangig zum Einsatz kommen. Der Massenanfall ist definiert als Diskrepanz in quantitativer und qualitativer Hinsicht bezüglich der Behandlungsbedürftigen und Behandlungskapazitäten für einen verschieden langen Zeitraum und verlangt eine besondere Führungs- und Versorgungsstruktur, das heißt, die üblichen Kräfte von Feuerwehr und Rettungsdienst reichen nicht aus, bedürfen einer Verstärkung und einer gesonderten Einsatzleitung. Abstriche müssen toleriert werden Nachdem die Versorgung des Massenanfalls durch diese Vorgaben und gesetzlich fixiert in den Bereich des Rettungsdienstes fällt, müssen auch hier entsprechende Vorbereitungen für die Bewältigung dieser Notsituation getroffen werden. Die Bedingungen für die medizinische Hilfeleistung unterscheiden sich grundlegend von den üblichen Versorgungskonzepten. Bei einem Massenunfall ist es das Ziel, der Vielzahl der Betroffenen eine größtmögliche Hilfe zu bieten, das heißt, mit den verfügbaren Kräften möglichst vielen Menschen ein Überleben zu ermöglichen und nicht mehr die vorhandenen Kräfte auf einzelne Patienten zu konzentrieren. Abstriche in wechselnder Intensität werden nicht nur toleriert, sondern müssen sogar angestrebt werden. Die Praxis zeigt, daß dies für alle Beteiligten nur mit größter Mühe möglich und zum Teil mit erheblichen, auch moralischen Bedenken verbunden ist. Um die Versorgungsstrategie des Massenanfalls umzusetzen, bedarf es innerhalb des Rettungsdienstes gesonderter Organisationsformen und besonderer Einsatzgrundsätze, um eine zeitgerechte Erstversorgung vor Ort zu garantieren und eine optimale Verteilung der Patienten auf die Krankenhäuser zu ermöglichen. Es genügt jedoch nicht, daß jede Einsatzorganisation sich alleine für einen Massenanfall in den eigenen Reihen vorbereitet und versucht, ihr Bestes zu geben, sondern eine erfolgreiche Bewältigung kann nur erreicht werden, wenn eine Zusammenarbeit aller Beteiligten gesichert ist. Einsätze bei einem Massenanfall, die erfolgreich sein sollen, brauchen mehr, namentlich eine konsequente und gesamteinheitliche Führung und eine gute Koordination. Dafür sind folgende Voraussetzungen aufgrund bisheriger Erfahrungen mit derartigen Notfallsituationen notwendig: l eine klare Führungsstruktur mit gemeinsamer Einsatzleitung im Schadensraum, die von Anfang an einen direkten Kontakt zwischen den verschiedenen Einsatzorganisationen und damit die unbedingt notwendige Koordination des Gesamteinsatzes sicherstellt, l eine eindeutige Kennzeichnung der Einsatzkräfte, um eine Orientierung aller Betroffenen zu ermöglichen, l eine zweckmäßige Anordnung der Hilfsmöglichkeiten und der Fahrzeuge, adaptiert an den Versorgungsablauf, sowie l eine Vorbereitung auf allen Ebenen, nicht nur im Bereich der Leitstelle mit einer Alarm- und Ausrückeordnung, sondern auch innerhalb der Einsatzorganisationen, um nicht unerwartet konzeptionslos dem Ablauf eines derartigen Geschehens gegenüberzustehen.
Sicherheitsverpflichtung des Rettungsdienstes
Nachdem es sich bei einem möglichen Massenanfall um ein vielschichtiges Problem handelt, müssen auch Fragen nach der Qualifikation des Personals, der Bevorratung von Notfallausstattungen sowie einer definitiven Versorgung in vorzuhaltenden Krankenhausbetten erlaubt sein. Es wäre bei der Beantwortung dieser Fragen eine nicht vertretbare Simplifizierung, wenn man glaubt, zur Bewältigung eines Massenanfalls lediglich die bestehenden Rettungskapazitäten erweitern zu müssen. Unabhängig von der besonderen medizinischen Logistik bei der Bewältigung eines Massenanfalls erhebt sich als weitere Frage bei den zunehmenden Einsparungen im Rettungsdienst, woher die entsprechenden Material- und Personalreserven kommen sollen und wie sie zu finanzieren sind.
Die "Arbeitsgruppe Strukturfragen" des Bund-Länder-Ausschusses Rettungswesen hat sich konkret mit der Situation der Notfallvorsorge bei Großschadenslagen befaßt und festgestellt, daß der Rettungsdienst die Grundversorgung im Rahmen der ständig fortschreitenden Bedarfsplanung sicherzustellen hat. Dazu werden seitens der Bundesländer die Bereithaltung von Aktivierungspotentialen gefordert, von der wir vielfach noch weit entfernt sind. Momentan bezieht sich die Sicherheitsverpflichtung des Rettungsdienstes lediglich auf die Abdeckung auf Zeiten mit einem Spitzenbedarf. Für den Massenanfall verläßt man sich auf die freiwilligen Sonder- und Schnelleinsatzgruppen (SEG) der Hilfsorganisationen oder die Reserven der Feuerwehren, die den darüber hinausgehenden Bedarf abdecken sollen. Der Sanitätsdienst des regionalen Katastrophenschutzes, der zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt zur Verfügung stehen kann, hat die Aufgabe, den Rettungsdienst und die Sondereinsatzgruppen durch die Erfüllung von Sonderbedarf einschließlich der Betreuungskomponenten zu ergänzen. Er soll - nach Ansicht der Ländervertreter - in der Folge die Versorgung und Betreuung der Bevölkerung in dieser Situation sicherstellen.
Die rettungsdienstliche Bewältigung von Schadensereignissen mit einer Vielzahl von Verletzten/Erkrankten und/oder Betroffenen unterhalb der Katastrophenschwelle ist deshalb eine durch die Rettungsdienstgesetze der Länder dem öffentlichen Rettungsdienst zugewiesene Pflichtaufgabe. Die Träger des Rettungsdienstes sind verpflichtet, "ausreichende Vorbereitungen für den Einsatz zusätzlicher Rettungsmittel und des notwendigen Personals" zu treffen, wie dies zum Beispiel im Rettungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen festgeschrieben ist. Unabhängig von dieser gesetzlich fixierten Aufgabe ist aber in vielen Bereichen in der Vergangenheit freiwillig eine Vorleistung erbracht worden, die Organisationsstrukturen und Vorbereitungen materieller und personeller Art betraf, um bei besonderen Schadens- und Gefahrenslagen unmittelbar reagieren zu können. Ausdruck dieser Vorbereitungen sind die in einigen Bereichen bei Hilfsorganisationen und Feuerwehr verfügbaren Schnelleinsatzgruppen, nachdem es sich gezeigt hat, daß Strukturen des Katastrophenschutzes hierfür nicht geeignet sind. Die SEG kann grundsätzlich als Unterstützung fungieren unter der Voraussetzung der Abkömmlichkeit (Arbeitsplatz - Lohnfortzahlung), sofern eine schnelle Alarmierung und eine Sicherung der Einsatzbereitschaft in 15 Minuten garantiert ist.
Rückzug des Bundes beim Katastrophenschutz
Bisher gelang es, durch diese freiwilligen Leistungen der Hilfsorganisationen und der Feuerwehren über den normalen Bedarf des Rettungsdienstes hinausgehende personelle und materielle Ausstattungen für den Massenanfall vorzuhalten. Allerdings bleibt offen, inwieweit diese Vorhaltungen auf Dauer ohne eine entsprechende finanzielle Absicherung gesichert werden können. Nachdem im Bayerischen Rettungsdienstgesetz - aber nicht nur dort - als politisch erklärtes Ziel eine Privatisierung im Bereich des Krankentransportes festgeschrieben ist, kann selbst unter Rückgriff auf diese Kräfte allein eine Bewältigung einer Großschadenslage nicht gewährleistet werden. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit freiwillige Vorleistungen zum Beispiel in Form von SEGen oder First Respondern in der Lage sind, eine Organisation für den Ausnahmefall aufrechtzuerhalten. Es seien aber heute bereits aus notfallmedizinischer Sicht Zweifel an dieser Konzeption angemeldet. Ausdruck einer Erweiterung des rettungsdienstlichen Horizontes im Hinblick auf eine Schadensbewältigung bei Großschadensereignissen ist auch die in den Rettungsdienstgesetzen fixierte Schaffung der Position des Leitenden Notarztes und des Organisatorischen Einsatzleiters als originäre Elemente des erweiterten Rettungsdienstes. Allerdings sind diese Positionen vielfach gleichfalls nur auf freiwilliger Basis besetzt - in Bayern ohne Bestallung durch die Rettungszweckverbände -, so daß derzeit weder die Finanzierung der Ausfallzeit - geschweige der Bereitschaftszeit - noch die rechtliche Absicherung gewährleistet sind. Weiteres Problem bei der Bewältigung dieser Sondersituation ist die fehlende praktische Erfahrung, nachdem ein Massenanfall eine Extrem- und Ausnahmesituation im täglichen Rettungsdienst darstellt. Eine Vorbereitung anhand von Planspielen findet nur in begrenztem Umfang statt, so daß auch eine mentale Auseinandersetzung mit dem Problem bei den Beteiligten meist nicht stattgefunden hat und der Ernstfall die meisten unvorbereitet trifft. Die Folge sind Handlungsdruck und Streß mit den daraus resultierenden negativen Konsequenzen. Durch den weitgehenden Rückzug des Bundes im Bereich des Katastrophenschutzes sind die SEGen vielerorts zu den verbleibenden Einheiten der zivilen Sanitätsversorgung geworden. Da sie beim Massenanfall von Verletzten alarmiert werden, wird der Notarzt in dieser Situation die SEG-Einheiten zur Verfügung haben, ohne sich vielfach vorher mit ihren Leistungsmöglichkeiten auseinandergesetzt zu haben. Zu fordern sind im Rahmen der Vorbereitung vermehrt praktische und realitätsbezogene Übungen sowie die Schaffung neuer Trainingsmöglichkeiten.

Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1998; 95: A-2251-2255 [Heft 37]

Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Peter Sefrin
Klinik für Anästhesiologie
der Universität Würzburg
Präklinische Notfallmedizin
Josef-Schneider-Straße 2
97080 Würzburg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sefrin, Prof. Dr. med. Peter

Trauma eine interdisziplinäre Herausforderung

Die präklinische Notfallmedizin im Rahmen des Rettungsdienstes hat sich seit den 70iger Jahren mit der Etablierung dar notärztlichen Versorgung im Rahmen das Notarztdienstes einen festen Platz errungen. Nichts geändert hat an der politischen Grundsatzposition daß der Rettungsdienst eine öffentliche Aufgabe der Gefahrenabwehr und der Gesundheitsfürsorge ist, Damit wird dem Bürger ein gesetzlich garantierter Anspruch auf eine flächendeckende hilfsfristorientierte notfallmedizinische Hilfe die dem jeweiligen Stand das medizinischen Wissens und der Technik entspricht, garantiert. Hierbei ist wie wir inzwischen durch eine Vielzahl von wissenschaftlich fundierten Untersuchungen nachweisen konnten, die Mitwirkung von Ärzten unabdingbar. Hintergrund ist die Erkenntnis, daß für eine Versorgung von Notfällen vor Beginn eines Abtransportes eine Stabilisierung der vitalen Funktionen notwendig ist und eine Behandlung nicht erst nach Einlieferung in ein Krankenhaus beginnen kann Fortschritte im Bereich der Reanimation und der Intensivmedizin stützen diese Thesen. Notärztliche Versorgung ist damit ein obligater Bestandteil des heutigen medizinischen Gesamtversorgungskonzeptes. Obwohl bei dem Versorgungskollektiv der Notfallpatienten im Rettungsdienst der traumatologische Patient lediglich 30% der Notarzteinsätze ausmacht, ist das Trauma in seinen verschiedenen Ursachen und Schädigungsintensitäten eine elementare Herausforderung aller im Rettungsdienst eingesetzten Ärzte. Zur Versorgung der differenten traumatologischen Notfälle sind nicht nur fundierte Kenntnisse der Pathophysiologie notwendig, sondern vor allem handwerkliches Können, Der menschliche Organismus ist vielfach ungeschützt den Einwirkungen seiner Umwelt ausgesetzt. Obwohl in besonderen Gefahrensituationen - wie im PKW - sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß durch spezifische Schutzmechanismen die negativen Auswirkungen eines Traumas gemindert werden können, bestehen derartige Schutzmöglichkeiten nicht in allen Lebenslagen, so daß nach wie vor die Folgen differenter Traumen zu einer akuten vitalen Bedrohung des Einzelnen werden können, Eine Beeinträchtigung der lebenswichtigen Funktionen Atmung und Kreislauf nach einem Trauma bleibt wenn sie nicht unmittelbar beseitigt werden kann, nicht ohne schwerwiegende Folgen. Die akuten respiratorischen und kardiovaskulären Veränderungen können z.B. durch die unmittelbare Verletzung selbst oder auch sekundär als Folge der Verletzung auftreten, Die schnelle Wiederherstellung dieser Funktionen ist deshalb nicht nur für das momentane Schicksal von Notfallpatienten von entscheidender Bedeutung, sondern auch für die Solidargemeinschaft, wenn es um die Kosten der Wiedereingliederung dieser Patienten mit den dabei erheblichen Folgelasten geht.

1983 wurde von Trunky das Rettungssystern Deutschlands mit folgendem Prädikat versehen. " Germany has by far the most impressive prehospital trauma care system in the world " Um diese Beurteilung zu rechtfertigen, müssen derzeit vor dem Hintergrund der Strukturreformen im Gesundheitswesen und den Einsparungen im Rettungsdienst erhebliche Anstrengungen unternommen werden, das Niveau zu halten bzw. weiter auszubauen. Alle 15 Sekunden wird in Deutschland ein Mensch bei einem Verkehrsunfall verletzt, Jeder 3. davon muß in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Jedes Jahr werden 400.000 Unfallverletzte stationär behandelt. Durch Unfallverletzte worden 40 % aller chirurgischen Betten belegt. Aus diesen wenigen Zahlen möge der Stellenwert des Traumas deutlich werden, wobei zugegebenermaßen ein deutlicher Rückgang im Bereich der Verkehrsunfälle erkennbar ist. So sind die Straßenverkehrsunfälle mit Personenschäden im Vergleich zum Vorjahr nach neuesten Erhebungen des Statistischen Bundesamtes um 5,4 % und die Anzahl der Getöten um 2,8 % zurückgegangen. Bei derart positiven Entwicklungen gibt es verständlicherweise viele Väter des Erfolges, trotzdem glauben wir ohne Überheblichkeit auch einen Teil auf das Konto des modernen Rettungswesen buchen zu dürfen Diese Zahlen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß bestimmte Personengruppen nach wie vor einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind. Hierzu gehören einmal Fahrradfahrer, die 1997 um 10 % mehr verunglückten. Besonders häufig verunglücken Kinder unter 15 Jahren, nämlich 24 % häufiger, wobei Kinder ganz besonders von Verkehrsunfällen betroffen werden. Gerade Kinderunfälle sind keine Zufälle, nachdem mehr als die Hälfte der getöteten Kinder Mitfahrer in einem Fahrzeug waren und diese nicht durch die im Fahrzeug vorhandenen Sicherungsmöglichkeiten geschützt wurden, Bei gezielten Kontrollen in Sachsen war für 34,5 % der bis 10jährigen Kinder im Auto überhaupt kein Sicherungssystem angebracht, Bei 18,4 % wurde das vorhandene System nicht genutzt und 26,1 % der Kinder waren falsch gesichert. Erschreckend ist, daß die Anschnallquote bei Kindern zwischen 6 und 12 Jahren nur bei 27 % liegt. Nach Schätzungen von Experten könnten durch engagiertes und kompetentes Handeln 60 % der Kinderunfälle vermieden werden. Andererseits ist aus dem klinischen Verlauf bekannt, daß gerade bei Kindern und Jugendlichen bei rechtzeitiger Rettung die Möglichkeiten des Rettungsdienstes zu besonders positiven Ergebnissen führen können, wenn die Akutversorgung konsequent genutzt wird und frühzeitig einsetzt. Aus diesem Grunde ist eine hohe fachliche Kompetenz aller Beteiligten des Rettungsdienstes zu fordern. Besonders der Notarzt ist in der Lage, mit seinem therapeutischen Interventionen zu einer frühen Stabilisierung und Wiederherstellung beizutragen.

Trotz dem Bemühen, das Management bei einem Trauma zu standardisieren, kann derzeit von einem einheitlichen Vorgehen nicht gesprochen werden. Einerseits sind die Folgen eines Traumas im Gegensatz zu einem Crashtest der Automobilindustrie nicht standardisiert und ein Trauma ist mit dem anderen nicht vergleichbar. Andererseits bestehen aber gerade in den differenten medizinische Disziplinen auch innerhalb einzelner Fachgebiete vollkommen verschiedene Auffassungen über das Vorgehen bei bestimmten Traumasituationen. Ein standardisiertes Traumamanagement ist zwar ein erstrebenswertes Ziel, das als Basis einer Qualitätssicherung unbedingt erforderlich ist, trotzdem bedarf es, ausgehend vom Standard beim Therapeuten einer fundierten Flexibilität, um differenten Fällen auch eine differente Behandlung und Versorgungsstrategie zukommen zu lassen.

Zur Durchführung der Versorgung bei traumatisierten Notfallpatienten sind auch organisatorische Vorbereitungen und entsprechende Versorgungsstrukturen notwendig. Neben Qualifikations- sind allerdings auch Organisationsdefizite feststellbar, weshalb die Befassung mit diesem Thema in seiner Ausführlichkeit und in den verschiedenen Facetten eine dringende Notwendigkeit im Bereich der Notfallmedizin darstellt. Aufgrund verschiedener Untersuchungen und vielfachen persönlichen Erfahrungen von Notärzten kann derzeit konstatiert werden, daß noch nicht alle Möglichkeiten einer Steigerung der Versorgungsqualität genutzt werden. Voraussetzung für eine Verbesserung der Situation ist, daß bei den Betroffenen das Bewußtsein für die aktuelle Gefährdung und für die notwendigen Interventionen vorhanden sein müssen, ohne daß häufig zu einem frühen Zeitpunkt bereits deutliche Symptome als Orientierungshilfen vorhanden sein müssen. Dies erfordert eine umfangreiche Auseinandersetzung mit der Problematik der differenten traumatischen Notfallsituationen und ihren konkreten Gefährdungen, Aus diesem Grunde sollen in den Referaten neben der fachlichen Qualifikation auch organisatorische Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung bewußt gemacht werden, Wie im Bereich der Wiederbelebung, bei der sich als Ausdruck der Kooperation und einer sinnvollen Organisation das Bild der Wiederbelebungskette inzwischen etabliert hat und auch dem Laien vor Augen geführt wird, daß eine Wiederherstellung des Notfallpatienten nur als Folge eines Ineinandergreifens verschiedener Helfer und Organisationen möglich ist, muß auch im Bereich der Traumaversorgung von einem gleichen Versorgungskonzept ausgegangen werden, Eine "Traumakette,"' ist derzeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit, denn häufig ist z.B. am Übergang von präklinischer zu klinischer Versorgung eine deutliche Unterbrechung festzustellen. Aus dem Wechsel des Versorgungsteams aus dem Bereich der Präklinik zur klinischen Versorgung darf aber keine Unterbrechung begonnener Maßnahmen resultieren und vor allem ist ein Zweifel an der Sinnhaftigkeit präklinisch indizierter Maßnahmen weder berechtigt noch für die weitere Versorgung nützlich. Wie es im Rahmen der Wiederbelebung eine Selbstverständlichkeit darstellt, die präklinisch begonnene Beatmung klinisch so lange fortzuführen, bis eine Stabilisierung der Oxygenation erreicht ist, muß auch im Rahmen der Traumaversorgung eine präklinische Therapie fortgeführt und darf nicht in Frage gestellt werden. Die Tatsache, daß im klinischen Bereich die gößere Chance für eine genauere Identifikation des Gesamtausmaß des Schadens besteht, ist kein Grund, eine begrenzte Diagnose des Rettungsdienstes als unzureichende Qualifikation des Teams zu deuten. Die besseren Möglichkeiten der Diagnose und Behandlung im klinischen Bereich darf nicht zu Hybris im Hinblick auf die unter wesentlich ungünstigeren Bedingungen nur begrenzt durchführbaren Behandlungsmaßnahmen der Präklinik führen. Von der Klinik sollte vielmehr Verständnis für die Problematik der Erstversorgung aufgebracht werden. Die Hauptaufgabe sollte darin zu sehen sein, bisher nicht oder unzureichend durchgeführte Therapiemaßnahmen dringlich mit den Möglichkeiten der Klinik zu ergänzen. Der Schockraum ist kein Laufsteg für "Degenfechter", sondern die Plattform für eine Verlagerung der Versorgung Traumatisierter auf eine höhere Ebene zum Zwecke einer höchst möglichen Kompetenz der Behandlungsstrategie, Unstrittig ist heute, daß für viele Traumapatienten der Erfolg der Behandlung nicht ausschließlich aus den Kapazitäten der Kliniken resultiert, ohne damit den Stellenwert der operativen und intensivmedizinischen Möglichkeiten zu schmälern, sondern daß das Schicksal des Überlebens und auch eine Rehabilitation und Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß entscheidend von der präklinischen Versorgung mit geprägt wird. Auch wenn die Versorgung des Traumapatienten im Rettungsdienst die kürzeste Zeit seines Wiederherstellungsprozesses ausmacht, darf bei seiner Wiederherstellung nicht übersehen werden, daß vielfach die Weichenstellung gerade in diesem Bereich erfolgt. Ebenso unstrittig ist, daß im Bereich der Traumaversorgung einzelne Verletzungen ihre spezielle Problematik haben. Nicht nur ein Patient mit einer Wirbelsäulenfraktur wird sich in seinem Versorgungskonzept von einem solchen mit Schädel-Hirn-Trauma unterscheiden, sondern auch spezielle Verletzungen, wie Gesichtsverletzungen, Frakturen, stumpfe Verletzungen und andere haben ihren Schwerpunkte und ihre Besonderheiten, die es auch im Rahmen der präklinischen Versorgung zu berücksichtigen gilt. Die verschiedenen Fachdisziplinen sehen verständlicherweise ihre Schwerpunkte aus den jeweiligen fachspezifischen Gesichtswinkeln, was solange seine Berechtigung hat, wie diese Sichtweise nicht mit anderen Verletzungen und deren Versorgungskonzeption kollidiert. Das größte Problem bezüglich der interdisziplinären Zusammenarbeit stellt nach wie vor das PoIytrauma dar, bei dem sich eine Vielzahl traumatologischer Fachdisziplinen zwangsläufig auf ein einheitliches abgestuftes Versorgungskonzept einigen müssen. Damit wird deutlich, daß bei traumatologisch Notfallpatienten es nicht um die Verwirklichung von Einzelaspekten gehen kann, sondern bei der Kombination verschiedener Schädigungen ein an den Notwendigkeiten orientierter gemeinsamer Weg der beteiligten Fachdisziplinen gefunden werden muß.

Wie in keinem anderen Bereich der Notfallmedizin kommt es beim Trauma und hier speziell beim Verkehrsunfall darauf an, innerhalb kürzester Frist professionelle Hilfe herbeizuholen. Dies gilt insbesondere, wenn es sich um zeitkritische, d.h. für der einzelnen Verletzten um eine lebensbedrohliche Situation handelt. Hierbei spielt die Erreichbarkeit der Rettungsleitstelle als Anlaufstelle für die Vermittlung des medizinischen Hilfeersuchens eine zentrale Rolle. Nach wie vor bestehen bei denjenigen, die sich dieser Leitstelle bedienen sollen, erhebliche Unsicherheiten bezüglich der Erreichbarkeit. Trotz des wesentlichen Fortschrittes in Bayern, daß die derzeit gültige Notrufnummer 19222 jetzt ohne Vorwahl angerufen werden kann, ist nach wie vor bei der Bürgern Bayerns, aber auch bei Gästen und Durchreisenden von keinem genügenden Bekanntheitsgrad dieser Notrufnummer auszugehen, Seit vielen Jahren fordern wir deshalb aus der Sicht der Notfallmedizin eine einheitliche bundesweite Notrufnummer zu schaffen. Inzwischen hat man auf Bundesebene, sich darauf geeinigt, daß die Terminologie der Notrufnummer geändert werden soll, wobei neben dem Polizeinotruf 110 Rettungsdienst und Feuerwehr unter der Notrufnummer 112 zusammengefaßt werden sollen. Der Vorteil dieser beiden Nummern liegt im Zeitalter der modernen Kommunikation auf der Hand, nachdem beide Nummern von jedem Handy ohne Vorwohl und von jeder öffentlichen Telefonzelle ohne Zusatzkosten gewählt werden können, Immerhin gehen zwischenzeitlich 17 % der Notrufe über Handy ein. Unter der Notrufnummer 112 sollte in Zukunft das gesamte medizinische und technische Hilfeersuchen subsumiert werden, wie es bei unserer letzten Tagung in Berchtesgaden vom Bayerischen Innenministerium nach Abschluß einer "Machbarkeitestudie" für Bayern ins Auge gefaßt wurde. Wichtig ist für die Bevölkerung, daß bundeseinheitlich unter der Notrufnummer 112 eine Hilfeersuchen im medizinischen Notfall kompetent vermittelt werden kann. Diese Konzentration beinhaltet wie in der Vergangenheit und beispielhaft für ganz Deutschland - in Bayern umgesetzt - auch die Erreichbarkeit des ärztlichen Bereitschaftsdienstes über die Rettungsleitstellen. Es hat sich gezeigt, daß es wenig hilfreich ist, eigene Nummern für den ärztlichen Bereitschaftsdienst einzurichten, da es unmöglich ist, daß der Bürger selbst vorselektieren soll, welches Hilfeersuchen an welche Einrichtung zu richten ist. Die Forderung nach der Einrichtung eines dreistelligen vorwahlfreien Notrufes bedeutet nicht die Abschaffung der Nummer 19222, sondern diese Nummer sollte auch weiter als Anlaufstelle für weniger dringliche Anfragen bei der Rettungsleitstelle bleiben.

Wenn wir heute davon ausgehen, daß in einem gemeinsamen Europa die Chancen für das Unfallopfer in allen Bereichen gleich sein sollten, dann muß es auch möglich sein, daß jeder EU-Reisende überall in Europa einen Notruf über die Nummer 112 absetzen kann, ohne Regionalstrukturen und Besonderheiten des Rettungsdienstes kennen zu müssen. Nicht zu verkennen ist die Tatsache, daß die Möglichkeiten einer Traumatisierung auch in Zukunft bestehen bleiben werden. In einer Vorausschätzung der Verkehrsentwicklung in Deutschland bis zum Jahre 2000, die vom IFO-Institut im Auftrage des Bundesministers für Verkehr durchgeführt wurde, steigt der Anteil des Individualverkehrs am Gesamtverkehr von 79 % im Jahre 1990 auf 80 % im Jahre 2010. Gleichzeitig wächst die Verkehrsleistung von 687 Mrd. auf 928 Mrd. Personenkilometer. Hinzu kommt eine prognostizierte deutliche Zunahme des Straßengüterverkehrs um 47 % im Vergleich der Jahre 1992 zu 2010.

Die Automobilindustrie hat zwar ihre Fahrzeuge laufend durch Maßnahmen zur Erhöhung der passiven und aktiven Sicherheit verbessert und sicherer gemacht. Die Politik hat Unfallschwerpunkte auf den Straßen entschärft. Die Medizin hat durch Fortschritte der Behandlung von Traumapatienten die Möglichkeiten der Wiederherstellung erhöht. Dennoch ist die Zahl der Unfälle noch zu hoch und es müssen weitere Maßnahmen eingeleitet werden, um die Folgen von Personenschäden zu reduzieren, um damit die Volkswirtschaft zu entlasten.

Hierzu könnten beispielsweise Möglichkeiten einer schnelleren Alarmierung des Rettungsdienstes durch moderne Kommunikationsmittel gehören. Derzeit überlegen Vertreter von der Automobilindustrie, Telekommunikationsfirmen und ADAC, ob durch automatische Notrufsysteme eine Verkürzung der Rettungszeit erreicht werden könnte. In einem Feldversuch in Stuttgart wurde durch ein automatisches Notrufsystem sowohl im Stadtgebiet wie in ländlichen Regionen eine deutliche Verkürzung nachgewiesen. In ländlichen Regionen reduzierte sich diese von 21 Minuten auf 12 Minuten, weshalb eine Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit von 12% prognostiziert wurde. Eine wesentliche Zeitersparnis kommt dabei der Entdeckungs- und Benachrichtigungszeit zu, die derzeit durchschnittlich auf 10 Minuten anzusetzen ist. Innerorts ließe sich die Rettungszeit von 13 auf 8 Minuten reduzieren, was eine Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit auf 7 % ausmachen würde. Systeme, die Unfallschwere, Unfallort und --zeitpunkt automatisch zu übermitteln in der Lage sind, sind heute keine Utopie mehr, Wenn zu dieser Zeitverkürzung auch noch eine Verbesserung der medizinischen Leistungen kommt bzw., eine qualifizierte notärztliche Versorgung sichergestellt werden kann, ist eine weitere Senkung der Letalität von Verletzten möglich. So hat sich seit der Einführung des Notarztsystems die Letalität während des Transportes von 25 % im Jahre 1974 auf 1% im Jahre 1987 senken lassen. 63 % der Polytraumatisierten konnten 1987 bereits nach 3 Tagen die Intensivstation verlassen, gegenüber 14 % im Jahre 1974. Bei einem Vergleich zwischen einem amerikanischen und deutschen Rettungssystern bei der Versorgung von Polytraumata weist das deutsche Notarztsystem einen um 26 % höheren Wirkungsgrad auf.

Trotz Heimpflicht und Sicherheitsgurt landen jährlich mehr als 200.000 Menschen mit Verkehrsunfällen mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma und langanhaltender Bewußtlosigkeit im Krankenhaus. Hochsaison für tragische Unfälle besonders bei Motorradfahrern sind Frühjahr und Sommer. Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes ist das schwere Schädel-Hirn-Trauma die häufigste Todesursache bei den unter 45jährigen. Schätzungsweise 4250 Menschen pro Jahr worden lebenslang pflegebedürftig.

Die Chance auf Heilung eines Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma sinken mit zunehmender Länge der Bewußtlosigkeit. Immerhin gilt eine Erholung bei Erwachsenen mit einem apallischen Syndrom noch nach 6 Monaten als möglich. Kinder können auch nach 12 Monaten Bewußtlosigkeit wieder gesund werden, Von denjenigen, die nach dieser Zeit immer noch nicht kontaktfähig sind, besteht nur für jeden 5. Aussicht auf Besserung. Das Schädel-Hirn-Trauma ist eines der besten Beispiele für den Wert einer optimierten Erstversorgung, denn gerade hier gelingt es durch eine zügige Noftallversorgung, sogenannten Sekundärschäden vorzubeugen, die für den nachfolgenden Tod und bleibende Behinderung verantwortlich sind, Durch gemeinsame Anstrengungen aller beteiligten Disziplinen gelang es besonders im Bereich der Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma den Notfalltourismus zu verringern, inzwischen kann festgestellt werden, daß 75 % der Verunfallten innerhalb von 60 Minuten eine kompetente Klinik erreichen. Allerdings ist es notwendig, daß gerade in dieser Zeit eine fundierte Versorgung und Überwachung sichergestellt ist.

Die Versorgung von traumatisierten Patienten muß auch oder gerade wegen der politischen Ansprüche unter Kostengesichtspunkten gesehen werden, wenn seitens der Gesundheitsministerkonferenz festgelegt wird, daß nur noch Leistungen vergütet werden, die gesetzlich festgelegt sind, oder vertraglich vereinbarten Qualitätsanforderungen genügen. In einer Untersuchung von Bickl aus dem Jahre 1994 wird deutlich, wie schwierig ein derartiger Nachweis der Versorgungsqualität ist. Bickl und Mitarbeiter haben die bei uns übliche aggressive Volumentherapie bei Notfallpatienten mit penetrierendem Thoraxtrauma mit einem restriktiven Therepiekonzept, wie in USA üblich, verglichen. Dabei zeigte sich, daß die Patienten mit zurückhaltender Flüssigkeitstherapie eine höhere Überlebenschance hatten, als die nach aggressivem Volumenersatz. Hieraus wurde vorschnell abgeleitet, daß das heute als Standard angesehene Therapieverfahren nutzlos sei. Die sich anschließende heftige teils emotional geführte Diskussion war Außenstehenden, die schon lange die Vermutung hatten, daß Forderungen im Bereich der Präklinik keine wissenschaftlich fundierte Basis haben, Wasser auf die Mühlen, um zu einer generellen Infragestellung eines präklinischen intensivmedizinischen Versorgungskonzeptes zu kommen, Wissenschaftliche Fakten mit dem Nachweis, daß es sich bei den untersuchten Patienten um ein spezielles, selektives Patientenkollektiv handelte, bei dem die standardisierte, Forderung einer aggressiven Volumentherapie nicht angezeigt war, gingen unter. Dem stehen heute mehrere wissenschaftlich nachvollziehbare Untersuchungen aus dem deutschsprachigen Raum gegenüber, die eindeutig das Gegenteil beweisen können. Damit besteht für den Notarztdienst die Verpflichtung, diese Therapie auch zukünftig zeitnahe dem Patienten zukommen zu lassen, was einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema bedarf. Aus diesem Grunde wurde für die diesjährige Tagung das Thema "Der traumatologische Notfallpatient" gewählt, um die Möglichkeit der Fortbildung zu eröffnen. Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, daß Fortbildung auch im Bereich der Notfallmedizin eine im Arztrecht fixierte Pflichtaufgabe für jeden Notarzt darstellt. Gerade vor dem Hintergrund der Ausweitung der medizinischen Erkenntnisse einerseits und der Umsetzung von Behandlungsmöglichkeiten andererseits bedarf es auch im Bereich der Traumatologie der Notwendigkeit, sich mit diesen Neuerungen auseinanderzusetzen. Bei den aus Hektik und Spontanentscheidungen geprägten Situationen, die ein Abwägen eines Für und Widers einer bestimmten Therapie nicht zulassen können leicht Fehlentscheidungen resultieren, weshalb sich die Forderung eines fundierten jederzeit abrufbaren notfallmedizinischen Wissen in besonderem Maße stellt. Aus diesem Grunde ist es ein Gebot der Stunde, sich durch intensive Fortbildung auf derartige Situationen nicht nur mental, sondern auch durch die Möglichkeit eines Trainings vorzubereiten, Hierzu bietet unsere Fortbildungstagung mit begleiteten Seminaren eine akzeptable Lösung. Obwohl immer wieder zur Steigerung der notfallmedizinische Qualifikation die Schaffung eines Facharztes für Notfallmedizin, wie in USA gerufen wird, sollten diesem Weg in Deutschland eine Absage erteilt werden. Zu favorisieren ist eher die Einführung einer Zusatzbezeichnung analog zu den DIVI-Empfehlungen zur Zusatzqualifikation in der Intensivmedizin in Form der fakultativen Weiterbildung. Für eine eigenständige Fachdisziplin " Notfallmedizin" besteht weder Interesse noch ist es berufspolitisch umsetzbar.

Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Peter Sefrin
Klinik für Anästhesiologie
der Universität Würzburg
Präklinische Notfallmedizin
Josef-Schneider-Straße 2
97080 Würzburg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Notfälle durch soziale Ungleichheit?

Studie über 2500 Einsätze von Notarztwagen

KAISERSLAUTERN/MANNHEIM (tps). Erstmals in Deutschland haben in Kaiserslautern Ärzte und Stadtverwaltung gemeinsam untersucht, welcher Zusammenhang zwischen dem sozialen Status der Bürger und der Einsatzhäufigkeit von Notarztwagen besteht. Ergebnis: In Stadtteilen, in denen viele Sozialhilfeempfänger wohnen, wird öfter der Notarzt gerufen.

"Für mich war überraschend, wie deutlich das Ergebnis ist", sagt Professor Christian Madler, Leiter des Instituts für Anaesthesiologie und Notfallmedizin des Kaiserslauterer Westpfalz-Klinikums, der in Mannheim seine Ergebnisse auf dem Ersten Südwestdeutschen Notfallsymposium vorstellt. Über 2500 Einsätze hat er untersucht - und ein deutliches Gefälle festgestellt: In einem Kaiserslauterer Innenstadtbezirk, in dem acht Prozent der Einwohner Sozialhilfe bekommen, rückt jedes Jahr pro tausend Einwohner 34 Mal der Notarzt aus. In einem Vorstadtbezirk mit einem Sozialhilfeanteil von zwei Prozent wurde er dagegen nur 13 Mal gerufen. Dabei traten lebensbedrohliche Notfälle wie Herzinfarkte in der Innenstadt kaum häufiger auf. Weitaus häufiger waren hingegen psychosoziale oder psychiatrische Notfälle wie Missbrauch von Alkohol und Drogen, Selbstmordversuche und Familienstreitigkeiten.

In den Ergebnissen sehen die Ärzte deshalb nicht bloß eine Bestätigung dafür, dass viele Notfälle durch soziale Ungleichheiten entstehen und dadurch in Problembereichen der Innenstadt öfter vorkommen. Eine Ursache sei außerdem, dass in der Innenstadt "kleine" Notfälle nicht mehr in der Familie, der Nachbarschaft oder mit dem Hausarzt gelöst werden. Und ein weiteres Problem wird nach Ansicht der Mediziner deutlich: Der Notarzt wird immer häufiger gerufen, wenn eigentlich Polizei, Drogenberatung oder psychologische Notdienste zuständig wären. Ein häufiger Einsatz von Rettungswagen könne also Zeichen dafür sein, dass geeignete Angebote fehlen, die rund um die Uhr in psychosozialen Notlagen ansprechbar sind. "Die Klinik wird so zum Auffangbecken für Menschen, die keine ärztliche Versorgung in der Klinik brauchen, gleichzeitig aber auf Grund der sozialen Umstände nicht vor Ort gelassen werden können", erklärt Madler. Sein Ziel ist deshalb, Aufgaben und Selbstverständnis der Notfallmedizin zu ändern. "Die Leute wollen, dass wir kommen, da können wir nicht sagen, das interessiert uns nicht", sagt Madler. Zurzeit sei die Ausbildung der Notfallmediziner darauf aber nicht abgestimmt. Außerdem sei eine weitere Zusammenarbeit mit der Stadt geplant: "Unser Ziel ist, eine Art Call-Center zu schaffen, in dem alle bestehenden Einrichtungen vernetzt und dadurch rund um die Uhr verfügbar werden." Das Ideal: Der Notarzt entscheidet vor Ort, ob sein Patient ein Fall für die Klinik ist. Wenn nicht, kann er über eine Telefonzentrale den zuständigen Dienst informieren.

Soziale Probleme zu benennen, statt sie mit falschem Etikett hinter Krankenhausmauern verschwinden zu lassen, ist richtig. Den Zusammenhang zwischen sozialem Status und Einsatzhäufigkeit von Notärzten zu untersuchen, ist mutig. Die Kaiserslauterer Studie zeigt dabei, dass in Innenstädten Ersatz für familiäre Strukturen geschaffen werden muss, die nicht mehr greifen - und dass die bisher angebotenen Ersatzstrukturen" nicht bekannt oder akzeptiert sind. Denn wenn Familienkonflikte und psychologische Notlagen beim Notarzt landen, ist das ein Zeichen dafür, dass sozial Benachteiligte eher bereit sind, beim Arzt anzurufen als bei den zuständigen Stellen wie Drogenberatung, Jugendamt oder Polizei. Die Schlussfolgerung der Mediziner, einfach an die richtige Stelle weiter zu verbinden, ist logisch und aus fachlicher Sicht auch die beste Hilfe für die Betroffenen. Fraglich ist nur, ob die Ursache für den Anruf beim Notarzt wirklich darin liegt, dass die eigentlich zuständigen Stellen nicht bekannt oder nicht erreichbar sind. Oder ob es nicht eher darum geht, Hilfsangebote zu ignorieren, gegenüber denen vielleicht Vorurteile bestehen. Natürlich können bestehende soziale Ungleichheiten nicht von heute auf morgen "abgeschafft" werden. Ein Ziel könnte aber sein, die gesellschaftliche Akzeptanz von Hilfsangeboten zu steigern und damit die Hemmschwelle zu senken sie in Anspruch zu nehmen. Die Idee, Notfälle an die richtige Stelle weiter zu verbinden, kann dazu einen Beitrag leisten. Denn dadurch bekommen soziale Dienste die Chance, zum Einsatz zu kommen und ihre Fähigkeiten zu beweisen.